Von Trümmer-Männern & Trümmer-Frauen
Für mich als Mann war es auf meinem Weg stets eine der größten Herausforderungen, immer wieder mit der verletzten weiblichen Sexualität konfrontiert zu werden. Schon mit 15 Jahren, in meiner ersten, tieferen Liebesbeziehung entstanden diese tiefsitzenden Wut-Sätze in mir, die noch bis weit in meine tantrische Ausbildung hinein ein starker Teil meiner Identität waren:
“Ich bin es leid, als Mann täglich beweisen zu müssen, dass ich kein Schwein bin! Immer unter Generalverdacht zu stehen! Immer diese Scheiß-Angst in euren Augen, die nichts mit mir zu tun hat! Ich will doch nichts als Liebe, verdammt! Geben und bekommen, begegnen und liebevoll, lustvoll genießen! Einfach sein dürfen, wie ich bin, auch als Mann und sexuelles Wesen, ohne dass sich jemand davon bedroht fühlt!”
Ich habe mich viele Jahre mit dem Feminismus und dem Patriarchat auseinandergesetzt, war selbst hoch politisch und habe über längere Zeit mein eigenes Mann-Sein komplett abgespalten und verurteilt, um mir im Anschluss mein eigenes Mann-Sein zu erschließen, es erblühen zu lassen, es zu ehren und zu lieben.
Aber die Wut blieb. Ich nahm sie mit in die Ausbildung, in die Dynamische Meditation, in die AUM, ins Encounter, in die Beziehungsarbeit, in die Zwiegespräche, in Coachings und die Göttin weiß wohin noch. Das war gut! Die Wut, diese Sätze, wurden gehört und mein Herz konnte an dieser Stelle mehr und mehr Frieden finden. Jetzt, als Tantra-Lehrer wünsche ich mir, diesen Frieden zu stiften, unter Männern wie Frauen, und versuche darum, Bilder und Worte zu finden, die geeignet sind, Licht in die aktuelle Situation zu bringen.
Was hat es mit dem Patriarchat auf sich?
Ich möchte hier nicht allzu tief auf das Thema eingehen, es gibt genügend gute Literatur dazu. Ich möchte nur zusammenfassen, was ich im Großen zu verstehen für wichtig halte, damit dieser Text auch verständlich ist für Menschen, die sich mit dem Thema noch nicht beschäftigt haben. Ich möchte verdeutlichen, wo wir im Jahre 2020 mit diesem Thema stehen.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, dass wir uns global, gesamtgesellschaftlich und im Rahmen der Geschichte gesehen, nach einer sehr langen, schwarzen Nacht gerade erst in einer sanften Morgendämmerung befinden, was die Heilung unserer Sexualität und unserer Geschlechterrollen betrifft. Ein Erwachen findet statt, seit ungefähr einem halben Jahrhundert, in vergleichsweise kleinen Kreisen von Menschen, die in diesen Jahren merklich anwachsen. Menschen kommen zu uns, mit Wünschen und Hoffnungen und mit tiefen Wunden, Männer wie Frauen, und wünschen sich Veränderung, wünschen sich Heilung, Liebe und Frieden.
Hinter uns liegen ungefähr 5.000 Jahre Geschichte der weltumspannenden Patriarchate, die im Kern (stark vereinfacht) ihre Existenz vor allem auf der Verteufelung und Unterdrückung der Sexualität bauen, und zwar vornehmlich der weiblichen, aber damit natürlich auch der Männlichen. Warum? Rechtskräftige DNA-basierte Vaterschaftstests gibt es erst seit 1995, davor gab es nur recht unsichere Verfahren, um die männliche Erblinie nachzuweisen. Eine gesicherte männliche Erblinie, welche das unumgängliche Fundament der “Herrschaft des Vaters” ist, war also nur durch massive Moralisierungs-Instrumente zu erreichen. Dies geschah meist durch Religion, bspw. die Todsünde des Ehebruchs, der Erbsünde, dem Teufel im Schoße der Frau. Aber diese patriachalen Überzeugungen pflanzten sich fort in der Philosophie und zeigt sich sogar in den Naturwissenschaften, bspw. durch die Verleugnung der Klitoris, des G-Punktes und der weiblichen Ejakulation bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Auch Verhütungs- oder Abtreibungs-Methoden gehören in manchen Kulturen noch bis heute zum geheimen Wissen weiser Frauen des “linkshändigen Pfades”, früher in Europa “Hexen” genannt. Frauen, die verfolgt wurden, weil sie die Macht der Patriarchen gefährdeten. Die männlichen und nicht selten auch weiblichen Verfolger/innen waren sich dabei dieser Gründe in der Regel gar nicht bewusst, sie folgten nur noch der geltenden Moral, den scheinbar göttlichen Gesetzen, getrieben von Angst, Schuld und Scham und in der vollen, inneren Überzeugung, das Richtige, das Gute zu tun. Menschen sind nicht böse, sie sind nur oft unwissend, verstört und fehlgeleitet.
Wir haben diese Moral in Form von Schuld und Scham bis heute stark internalisiert, also zu Teilen unserer vermeintlichen Persönlichkeit gemacht. Das gilt für Männer wie Frauen gleichermaßen, Schuld und Scham sind die Widerstände Nr. 1, die uns bei TeilnehmerInnen von Tantra-Workshops, Coaching- und Therapie-KlientInnen und MassagekundInnen täglich begegnen.
Auch in der Swingerszene, wo sich die Menschen in der Regel für sexuell befreit halten, sind diese Gefühle oft nur abgespalten. Sie werden in BDSM-Praktiken meist unbewusst rituell ausgelebt, bspw. als eine Variation von “Ich erlaube es mir, schmutzig zu sein, eine Schlampe zu sein” oder “Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen kommen überall hin!” – aber den letzten Schritt zu gehen, die Sexualität, Lust und Ekstase aus tiefstem Herzen und mit voller Überzeugung als leuchtend, rein und heilig zu erleben, das gelingt bislang wirklich den Allerwenigsten.
Wenn die Geduld ein Ende hat
Wenn wir Yoni-Massagen oder Vereinigungen anleiten, sind wir sehr bemüht, den Teilnehmer/innen klar zu machen, dass der Schritt in die Intimität bei Männern und Frauen wirklich vollkommen grundverschieden ist. Nicht nur physisch, nicht nur biologisch, sondern vor allem auch systemisch geprägt von Jahrtausenden der Unterdrückung, Verteufelung und Verletzung der Yoni. Es ist ein massives, uraltes und weltumspannendes Trauma. Es sitzt tief in der Sprache, der Kultur, den religiösen und auch den sogenannten aufgeklärten Werten. Es sitzt in der sogenannten Schulmedizin, es sitzt sogar durch Jahrtausende andauernde Selektion (bspw. Hexenverfolgung) in unseren Genen, wir alle tragen das in jeder Zelle. Es ist nichts, was ein einzelner Mensch in einem einzelnen Menschenleben vollständig auflösen und heilen kann. Keiner von uns.
Kein Wunder, dass uns oft der Mut und uns Männer auch oft die Geduld verlässt. Da beschäftige ich mich nun schon so viele Jahre damit, hab so hart an mir gearbeitet, jetzt will ich, dass es einfach mal leicht ist, schön und lustvoll, einfach mal entspannt und geil! Und so kommt es immer wieder vor, dass Männer auch in gut geführten Settings dann vorpreschen, “heimlich versuchen, zu fummeln” wo es ganz klar hieß “nur halten, nicht bewegen” und die Frauen sich anschließend bei uns beschweren – es entstehen widersprüchliche Opfer-Täter-Dynamiken, beide Seiten sind verletzt, werten heftig und der Krieg der Geschlechter lodert wieder auf.
Da ist es wichtig, auch dazu ein liebevolles “Ja” zu finden, genau hier sind wir in Kontakt mit dem Heilungsprozess, nicht nur persönlich, sondern auch systemisch/historisch. Hier dürfen wir wachsen, geduldig mit uns selbst und unserem Gegenüber sein, einander immer wieder vergeben und vor allem in eine Solidarität finden. Nicht nur Frauen-Solidarität und Männer-Solidarität, das können wir mittlerweile sehr gut. Nein, es geht um intersexuelle Solidarität, die Solidarität zwischen Mann und Frau, die darauf basiert, dass wir uns alle Frieden, Liebe, Lust und Ekstase wünschen, und dass wir, wenn wir unseren Blickwinkel weiten, eigentlich alle vor den selben Hindernissen stehen: Dass wir zusammengekommen sind um etwas zu heilen, das größer ist als Du und Ich, größer als deine und meine Wunden, deine und meine Wünsche, deine und meine Werte.
Wir können diese Heilungsprozesse schlussendlich nur gemeinsam vollbringen.
Die gute Nachricht ist, die ersehnten, leichten und lustvollen Momente häufen sich. Wir erleben sie oft, wenn wir in einer guten Beziehung sind, wenn Vertrauen da ist, und wir erleben sie tatsächlich immer öfter in tantrischen Settings mit Menschen, denen wir gerade das erste Mal begegnen. Ja, “wir Tantriker/innen” sind auf einem vielversprechenden und schönen Weg, und wir sind Pioniere einer Bewegung, die historisch betrachtet noch völlig in den Kinderschuhen steckt. Darum ist es so ganz besonders wichtig, dass wir immer wieder das Alte loslassen und das Unbekannte bestaunen lernen. Dass wir neue Bilder finden, die uns leiten.
Wir sind die “Trümmer-Männer”
Ein Bild, welches zu mir als Mann kam und mich im Herzen tief berührt hat, weil es die eingangs beschriebene Wut sehr zu befrieden vermag, ist es, diese, unsere neue Generation von Männern als die “Trümmer-Männer” zu sehen. Ich beziehe mich natürlich auf die sogenannten Trümmerfrauen nach dem zweiten Weltkrieg.
Der Song “Mont Klamott” der DDR-
Rockband Silly befasst sich mit dem
Thema der Trümmerfrauen.
Die Situation war die, dass im Krieg sehr viele Männer gefallen sind, vermisst waren oder in Gefangenschaft, Invalide oder bis zur Psychose traumatisiert. Die Frauen waren in der Situation, das Land, welches in Trümmern lag, aufzuräumen, obwohl die wenigsten von ihnen sich aktiv für diesen Krieg entschieden hatten. Die Mütter haben ihre Söhne an das Vaterland verloren und anschließend war es ihre Aufgabe, den Saustall aufzuräumen.
Aber sie haben es trotzdem getan. Weil es getan werden musste. Sie haben nicht gesagt, sollen die Männer ihren Scheiß alleine machen, sondern sie haben sich dem Schicksal hingegeben, gesehen und anerkannt, was ist, und getan, was zu tun war. Wenn wir heute unsere Großeltern darüber reden hören, hören wir oft, dass es eine harte Zeit war, aber dass sie daraus gelernt haben, dass es nichts hilft, sich zu beklagen, dass es dadurch nur noch schlimmer wird.
Zwar ist diese Hingabe, wenn man dazu die leidgeprüften und verhärmten Gesichter sieht, sicherlich keine gesunde. Denn natürlich war da kein Rahmen für eine bewusste, heilsame Persönlichkeitsentwicklung, es gab dafür auch gar keine Kultur und keine Ressourcen – aber das ist heute anders.
Wenn wir im Tantra von Hingabe sprechen, meinen wir im Prinzip genau das: Anerkennen was ist und es nicht bewerten (“sich nicht beklagen”) – Und wir kreieren uns auch Räume, um all die Emotionen, die dort aufsteigen, die dort gefühlt werden wollen, ebenfalls anzuerkennen und da sein zu lassen. Diesen Luxus hatten die Trümmerfrauen damals natürlich nicht. Aber wir haben ihn!
Wenn ich nun sage, wir sind die Trümmer-Männer, dann geht es darum, genau dieses “Ja” zu finden. Der Krieg, um den es hier geht, sind die Jahrtausende des Patriarchats, das wir gerade zu heilen versuchen. Ja, ich als Mann fühle, das ist nicht mein Krieg, ich hab mir den nicht ausgesucht, ich hatte keine Wahl und ich habe keinen Bock darauf! UND: Ja, ich lebe in dieser Zeit, in dieser Kultur, wo es nun mal die Wahrheit ist, dass diese Trümmer da sind und aufgeräumt werden müssen.
Und auch wenn ich dieses Trümmerfeld nicht verschuldet habe, so nehme ich diese ehrenvolle Aufgabe an, die die Zeit und die Welt jetzt in meine Hände legt, und beginne hingebungsvoll damit aufzuräumen. Ich beginne in mir selbst, meinem Herzen, meinen Gedanken, meinem Körper, meinen Werten, meiner Kultur, meiner Sprache. Ob das nun “gerecht” ist oder nicht, ist gar nicht wichtig. Das ist nur Mind-Fuck. Es ist schlichtweg “dran” und ich bin “da”. Fertig.
Und für all die Gefühle, die sich dabei zeigen, haben wir immer bessere Tools. Welch ein Geschenk! Wir dürfen bewusst zulassen, verarbeiten, ausleben, teilen, was die Trümmer-Frauen von damals nicht durften. Mann, geht’s uns gut!
Das gleiche gilt natürlich für die Frauen
Ich möchte es noch einmal wiederholen: Wir sind an einen Punkt gekommen, wo wir diesen Saustall am besten Hand in Hand solidarisch aufräumen. Vielleicht ist dir schon aufgefallen, das das Wild Life Tantra Institut keine Männer- oder Frauengruppen anbietet. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die Männer- und Frauenarbeit nach wie vor sehr sehr wichtig finde. Wir beide sind sehr froh, dass es diesbezüglich viele tolle Angebote gibt von sehr kompetenten Menschen gibt, UND, wir möchten eine andere Arbeit machen, die unseres Erachtens der nächste, heilende Schritt ist, die intersexuelle Solidarität aufzubauen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es hier weiter geht in der Historie der Heilung der Sexualität bei jedem und jeder einzelnen von uns und in der Kultur und Gesellschaft. Wenn die von uns kreierten intersexuellen Räume dich überfordern, ist es vielleicht eine gute Idee, wenn du dir erstmal oder parallel eine Männer- bzw. Frauengruppe suchst und öfter zum Wild Life Breath oder zur AUM kommst.
Wenn du als Frau zu uns kommst, wünschen wir uns, dass du auch deinen Teil der Arbeit in deine Hände nimmst, dass du bereit bist, mit einem positiven Team-Geist die Forschungsreise zur heiligen Lust mit deinem Shiva gemeinsam anzutreten. Ihr seid beide ganz ganz vieles, und ihr seid beide auch “Trümmer-Menschen”, die da sind, um eine schönere, gesündere Welt zu gestalten. Der Mann, der hier vor dir sitzt, hat das nicht verbockt, er ist genauso hier hineingeboren wie du, es ist nicht seine Schuld und nicht seine alleinige Aufgabe, das Alte aufzuräumen. Ihr wollt das Gleiche, also reicht euch die Hand, vor allem dann, wenn’s schwierig wird, wenn’s weh tut oder nervt, gerade dann!
Namasté
Chono
Beitragsbild von Gerd Altmann
https://youtu.be/MtcUoNDvXoc
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Ich schreibe über die Befreiung von Lust und Sexualität und ihre Heiligkeit. Tantra ist meine Lebensphilosophie, der Weg zu Kraft und Erfolg in allen Bereichen. Ich bin Mitbegründer des Wild Life Tantra Institutes Berlin
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